Schwarze Bälle, Tanzschritte, farbige Masken, absurde Kostüme. © Kerstin Schomburg.

 

 

Klimatrilogie. Thomas Köck.

Schauspiel.

Marie Bues. Niedersächsisches Staatstheater Hannover.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 3. November 2021.

 

> Nach der Pause kehren alle an ihre Plätze zurück. Obwohl die Vorstellung noch einmal so lange dauert. Insgesamt drei Stunden. Warum tun sich die Leute das an? Nun, einerseits vergibt am Ende die Gesellschaft der Freunde des hannoverschen Schauspielhauses e.V.-GFS den Preis für die Nachwuchsschau­spielerin des Jahres 2020 (coronabedingt erst jetzt) an Alrun Hofert, andererseits liegt das Schauspielhaus mit der "Klima­trilogie" von Thomas Köck inhaltlich und formal, wie man so sagt, "im Trend". Auf dem Fahnensignet des Programmhefts flattert als Statement das Wort "jung". Und nun: Wer wagte es, sich dem Zeitgeist zu widersetzen? <

 

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts – und das heisst: mit dem Beginn der Moderne – teilte sich der Strom der Literatur (und auch des Theaters) in vier Arme. Der mächtigste (heute auf dem Hochplateau der staatlich geförderten deutschsprachigen Kultur beinahe versiegt bzw. umgelenkt in die Niederungen des französischen und englischen Sprachraums) trug die Bezeichnung "traditionell". Bei ihm wurde ein kunstreiches Gefälle zwischen Anfang und Schluss gebaut, und zwar, um im Bild zu bleiben, nach den Gesetzen der Hydraulik. Das Vorangehende floss "natürlich", beziehungsweise "logisch" ins Spätere. "A la recherche du temps perdu" (Proust) mündete in den "Temps retrouvé". "Die Wasserfälle von Slunj" (Doderer) erzählten die Biographie des Donald Clayton vom Moment an, wo sich seine Eltern erstmals begegneten, bis zu seinem Tod – an den Wasserfällen von Slunj. Auf dem Arm der Tradition bewegen sich heute noch die Unterhaltungsfilme und Krimis.

 

Der zweite Arm erhielt die Bezeichnung "nonsens" (Neben­bezeichnung "experimentell"). Ihn eröffneten die Dadaisten 1916 im Cabaret Voltaire an der Zürcher Spiegelgasse. Dort attackierten sie die "Sinnhuberei" der "bourgeoisen Kunstreligion" durch prononcierten Unsinn und leiteten die Narration artistisch ins Absurde, nachdem die anerzogene Haltung der Verehrung zur generalstabsmässig organisierten Idiotie des Weltkriegs geführt hatte. Zu den Gipfelpunkten des Nonsens gehören etwa Beckets "Not I", Tardieus "La Sonate et les trois messieurs ou Comment parler musique" oder Ionescos "Stühle".

 

Der dritte Arm trägt viele Stücke von Brecht, aber auch Frischs "Andorra", Bölls "Die verlorene Ehre der Katharina Blum" oder Weiss' "Gesang vom lusitanischen Popanz". Die Autoren kämpfen für die gute Sache, erfüllen den Auftrag der Gesellschaftsveränderung und betrachten sich dafür als "engagiert", das heisst: in die Pflicht genommen. Im Moment ist der Arm ausgetrocknet. Doch gerade heute, am 27. Oktober 2021, fragt die "Süddeutsche Zeitung" unter der Spitzmarke "Engagierte Literatur": "Wann erscheint endlich der Roman zum Klimawandel?"

 

Der vierte Arm, der schmalste und abgelegenste, gilt als "hermetisch". Auf den ersten Blick wirken seine Sachen unverständlich. Aber man glaubt zu spüren, dass etwas "dahinter" sei, und vermutet, man werde belohnt, wenn man den Verschluss (oder die Verschlüsselung) aufbekomme. Deswegen tragen viele der Werke, die als schwierig gelten, einen hohen Status. Sie verlangen Deutungsintelligenz, und wer die ins Spiel führen kann, darf sich zur Elite zählen (zu deutsch: den Auserlesenen). Das erklärt den Nimbus von O'Connors Erzählungen, von Rilkes und Celans Gedichten oder der "Maulwürfe" von Eich – neben dem Strahlen der "happy few", welche die Texte verstehen.

 

Heute nun, nach dem Ende der Moderne, sind die Arme des Traditionellen, des Nonsens, des Engagierten und des Hermetischen zusammengeflossen zu einem einzigen flachen, stehenden Gewässer, und ein anschauliches Beispiel dafür bildet die "Klimatrilogie" von Thomas Köck am Schauspiel Hannover.

 

Aus dem Bereich des Engagierten bezieht der Abend Stichwörter, Betrachtungen und Invektiven zu Kapitalismus, Kolonialismus, Migration, Ausbeutung und Selbstausbeutung. Traditionell erscheinen einzelne reportagehafte Erzähl- und Dialogelemente wie der Besuch beim dementen Vater im Altersheim und dem Verbrennungsopfer in der Hautklinik. Aus dem Bereich des Nonsens kommt das kombinierte Spiel mit schwarzen Bällen, Tanzschritten, Gesangs- und Instrumentalnummern, farbigen Masken, absurden Kostümen und spitzen Bemerkungen zu den Verspätungen der Deutschen Bahn. Hermetisch wirkt die verworrene, aber möglicherweise tiefsinnige Kombination der Themen und Darstellungsformen vom Ende des Sonnensystems über den Bau der Oper in Manaus bis zur Philosophie vom Wesen der Bilder und der Erinnerung.

 

Gegenüber dem Verwirrenden und Undurchschaubaren (das wiederum als Abbild der Realität und unseres gegenwärtigen Weltver­ständnisses aufzufassen ist), greift das Publikum zu zwei Haltungen:

 

(1) Es lässt das Unverstandene im Standby-Modus an sich vorbeirauschen, packt dann aber alle Planken aus einstmals bekannten, nun aber zerschellten Zusammenhängen und bekundet durch Laute der Wonne, auch Szenenbeifall, seine Erleichterung, endlich etwas Festes ergriffen und begriffen zu haben.

 

(2) Es setzt sich, falls vom Theater geliefert, eine halbe Stunde vor Beginn der Vorstellung in eine Einführung und/oder liest im Programmheft den Schlüssel "Zum Stück".

 

An diesen Stellen erschliesst sich ihm auch die Bedeutung des Titels, welche die zwischen Hermetik, Engagement und Nonsens oszillierende Inszenierung verschweigt:

 

Klimatrilogie umfasst die drei Stücke "paradies fluten", "paradies hungern", "paradies spielen", die der österreichische Dramatiker Thomas Köck zwischen 2014 und 2017 verfasst hat. In zeitdurchschreitenden Geschichten legen die polyphonen Stücke gegenwärtige und historische Konfliktzonen frei, die davon erzählen, wie das System Kapitalismus Mensch und Natur ausbeutet und zerstört. ... Diese Episoden ziehen an uns Zuschauer:innen vorüber wie Treibgut, scheinbar unverbunden, doch je mehr Erinnerungswracks auf der Bühne landen, desto klarer erscheint das Beziehungsgeflecht: Die ökologische Zerstörung unserer Erde zieht konsequent auch soziale, emotionale und psychologische Erosionen nach sich.

 

Die Begriffe "Zerstörung" und "Erosion" zeigen an, dass sich der Abend nicht mehr zu einem traditionellen Ganzen rundet, da seine Elemente – "scheinbar unverbunden" – den Charakter des Beliebigen tragen. Die Frage: "Warum wird so gespielt und nicht anders?" beziehungsweise: "Warum wird das gezeigt und nicht jenes?" lässt sich nicht mehr aus der Werkimmananz beantworten. So, wie "es" daherkommt, "stimmt" es halt besser für den Autor, für die Regisseurin (Marie Bues), die Dramaturgin, den individuellen Zuschauer. Die übergeordneten ästhetischen, logischen, durch die Praxis von Leben, Philosophie und Wissenschaft erfahrenen Gesetzmässigkeiten sind ausser Kraft gesetzt zugunsten einer individuellen, objektiv nicht mehr nachvollziehbaren "Überzeugung", die sich in ihrer politisch aktuellsten, aber auch krassesten Form bei den Impfgegnern manifestiert.

 

Das Urteilen mit Argumenten wird an dieser Stelle schwierig, ja unmöglich. Als Ernst Gombrich mit seiner "Geschichte der Kunst" die Gegenwart erreichte, streckte er die Waffen:

 

Keine Revolution in der Kunst war erfolgreicher als die, welche vor dem Ersten Weltkrieg begann. Diejenigen von uns, die einige der ersten Verfechter dieser Bewegung kannten und sich an ihren Mut, aber auch an ihre Bitterkeit erinnern, als sie einer feindseligen Presse und einer spöttischen Öffentlichkeit trotzten, können ihren Augen kaum trauen, wenn sie Ausstellungen von einstigen Rebellen sehen, die mit offizieller Unterstützung kuratiert und von ernsten Scharen belagert werden, welche darauf bedacht sind, die neuen Idiome zu lernen und zu übernehmen. Dieses Stück Geschichte habe ich selbst erlebt. Als ich das Kapitel über experimentelle Kunst konzipierte und schrieb, ging ich davon aus, dass es Aufgabe des Kritikers und Historikers sei, alle künstlerischen Experimente angesichts der feindseligen Kritik zu erklären und zu rechtfertigen. Heute besteht das Problem eher darin, dass sich der Nebel verzogen hat und dass fast alles Experimentelle für die Presse und die Öffentlichkeit akzeptabel erscheint. Wenn wir heute einen Helden brauchen, dann ist es der Künstler, der rebellische Gesten vermeidet. Ich glaube, dass dieser dramatische Wandel das wichtigste Ereignis in der Geschichte der Kunst darstellt, das ich seit der Erstver­öffentlichung dieses Buches im Jahr 1950 miterlebt habe.

 

Auf dem Gebiet des Theaters führt die postrevolutionäre Situation dazu, dass niemand mehr verlässlich angeben kann, ob eine Aufführung, die "Aus dem Bleistiftgebiet" entstand, besser ist oder gleich gut oder schlechter als die Aufführung der "Klimatrilogie" in Hannover. Alles ist, wie in der Bibel, gleich heilig.

 

Damit führt im grossen, flachen, stehenden Gewässer der Postmoderne die Vermischung der Formen und Gattungen zum Verstummen der Kritik, sofern sie mehr sagen will als "wie es ankam" und "wie es sich anfühlte" bei jemand so unerheblichem wie mir.

 

Alles ist ... 

- wie in der Bibel - 

... gleich heilig. 

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