Eine kompromisslose Aufführung. © Jean-Louis Fernandez.

 

 

La Seconde Surprise de l'amour. Marivaux.

Komödie.

Alain Françon. Odéon, Théâtre de l'Europe, Paris.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 23. November 2021.

 

> Bemerkenswert an dieser Aufführung ist ihre Kompromisslosig­keit. Sie will so rein als möglich Marivaux wiedergeben. Und zwar in seinem Geist. Das heisst: In der Noblesse der Sprache. In der Noblesse der Haltung. Damit nichts ablenke von den Leiden, die der grosse Zergliederer unters Mikroskop nahm. Auf dem transparenten Objektträger namens Komödie liegen komplex durcheinandergeflochtene Seelenpartikel. In hundertfünfzig­facher Vergrösserung fährt der Forscher ihren Linien nach. Daneben herrscht im Laboratorium vollständige Stille. Für gewisse Zuschauer wird das ermüdend. Sie raffen ihre Mäntel in den Arm, stehen von den Sitzen auf und steigen am Rand des Saals über den pumpernden Holzboden hinunter zum Eingang, der neben der Bühne liegt. Sie nehmen den Spiessrutenlauf im Kauf, sind vielleicht sogar ein bisschen stolz, dass alle ihren Protest erleben. Er richtet sich gegen ein Theater, das nichts bringt als Geist. – Und wie sagte schon Schopenhauer? Ah ja: "Die Materie wehrt sich gegen den Geist." <

 

Marivaux schreibt Komödien. Also Theaterstücke, bei denen es um die Liebe geht. Am Schluss – nach zwei Stunden und zahlreichen Verwicklungen – sollen die Rechten zusammenkommen und den Bund fürs Leben schliessen. Soweit, so gut; soweit, so bekannt. Ungewöhnlich ist aber, dass die Widerstände, die das Paar an einem schnellen Ja-Wort hindern, nicht von einem Dritten kommen: weder von einem Nebenbuhler noch von einem starrsinnigen Vater. Auch nicht von ungleichen materiellen Umständen wie Armut des einen Partners oder Zugehörigkeit zur falschen Schicht. Nein, die Hindernisse liegen in den Anschauungen der Partner. Und die sind nicht einmal verwerflich. Sie sind edel. Nachvollziehbar. Ehrenvoll.

 

Damit leiden also zwei noble Seelen an ihrer Eigenart. Wenn sie das Leben einfacher nähmen, wäre das Leben einfacher. Das sieht das Volk so, und diese Sicht verkörpern die Diener­gestalten, die unkompliziert zueinanderfinden. Folglich durchkreuzen sich in Marivaux' Komödien Idealismus und Realismus, Kopf und Bauch, Distinktion und Vulgarität. Für beide Seiten gibt es gute Argumente. Sie werden im Dialog vorgebracht. Als Zuschauer muss man unermüdlich den Kopf bei der Sache halten, auf die Nuance achten und Freude haben an der wohlgetroffenen Wendung.

 

Als Bühne braucht man exzellente Sprecher, die einfach nur dadurch, dass sie sich äussern und handeln, dastehen und zuhören, kommen und gehen, Figuren und Konflikte anstrengungslos heraufbeschwören. Das Théâtre de l'Odéon hat die verlangten sechs zusammengebracht: Georgia Scalliet (La Marquise, veuve), Alexandre Ruby (Le Comte), Pierre-François Garel (Le Chevalier), Suzanne De Baecque (Lisette, suivante de la Marquise), Rodolphe Congé (Monsieur Hortensius, pédant), Thomas Blanchard (Lubin, valet du Chevalier). Für sie lohnt sich schon die Reise nach Paris. Sie erfüllen "sans faille" das Profil ihrer Rolle. Sie spielen differenziert und einheit­lich im geforderten Stil. Sie bringen eine Marivaux-Aufführung von musterhafter Qualität hervor.

 

Regisseur Alain Françon erhielt vor drei Jahren den "Prix du plaisir du théâtre". Der Glanz dieser Auszeichnung ist noch nicht verblasst, wenn man der "Seconde Surprise de l'amour" begegnet.

 

In diesem Drama ... 

... hängt alles ... 

... an der Nuance. 

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