Wallenstein. Friedrich Schiller.
Dramatisches Gedicht.
Nicolas Brieger, Raimund Bauer. Hessisches Staatstheater Wiesbaden.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 11. Oktober 2021.
> Beginn 18:30 Uhr. Aufführungsdauer 4 Stunden 20 Minuten, eine Pause. – Ist es das, was das Publikum abgeschreckt hat? Oder die Herbstferien? Oder der Autorenname Friedrich Schiller? Tatsache ist jedenfalls, dass "Wallenstein" vor leeren Rängen stattfindet. Im grossen Haus des hessischen Staatstheaters Wiesbaden sind nicht einmal zwanzig Prozent der Plätze belegt. Aber nach zehn Minuten ist das egal. Zuschauer und Spieler sind gepackt, ergriffen und davongetragen von einem Geschichtsdrama, das in seinen gigantischen Dimensionen immer wieder zu brennend intensiven Punkten führt. <
Regisseur Nicolas Brieger hat die beiden abendfüllenden Stücke "Die Piccolomini" und "Wallensteins Tod" gekürzt und zu einem durchgehenden Drama mit dem Titel "Wallenstein" verbunden. Was weggefallen ist (etwa der Hofastrologe Seni), vermisst man nicht. Zu dicht ist die Kette der Ereignisse. Von Gruppenszenen mit der Generalität, in denen sich das Kriegshandwerk vor der Folie des historisch-politischen Hintergrunds spiegelt, führt die Handlung immer wieder zu Entscheidungsdialogen von zerreissender Spannung.
Das Ganze ist getragen von einer Sprache, die den Alltag weit hinter sich gelassen hat. Sie ist nie verwaschen; nie approximativ. Sondern immer schön, bedeutend, charaktervoll. Sie macht das Drama überwältigend, zusammen mit einer minuziös durchkomponierten Handlung.
So prägen denn die Eigenschaften "Grösse" und "Spannung" Schillers Werk. Goethe zu Eckermann: "Schiller mochte sich stellen, wie er wollte, er konnte gar nichts machen, was nicht immer bei weitem grösser herauskam als das Beste dieser Neueren: ja, wenn Schiller sich die Nägel beschnitt, war er grösser als diese Herren." Damit erreicht "Wallenstein" den Bereich der Klassizität. Er bedeutet nämlich "musterhaft" und "unübertrefflich in seiner Art".
Ihm entspricht der Theaterabend in Wiesbaden. Seine Bedeutung ergibt sich dadurch, dass der Regisseur beiseite tritt und Schiller die Bühne überlässt. Dafür setzt Nicolas Brieger, zusammen mit Bühnenbildner Raimund Bauer, die Spielfläche mitten in die Architektur des grandiosen neobarocken Fellner-und-Helmer-Baus. Das Publikum blickt von zwei Seiten ("bifrontal" ist das Fachwort) auf Spieler, die nicht von Kulissen und Video gestützt werden, sondern allein mit ihrem Körper und ihren Worten die Handlung tragen.
Im "Dazwischen" passiert nun das Eigentliche. Es ist das Gemeinte, das Gewollte, das Gemiedene, das Befürchtete, das Unausgesprochene, kurz, das Gewaltige. Damit erweist sich "Wallenstein" als dichte, abgründige, mehrdimensionale Geschichte. Manipulative Dialoge mit unausgesprochenen Hintergedanken entrollen sich neben aufrichtigen Begegnungen von grosser Klarheit. Die Wahrheitsmomente ergeben sich immer dann, wenn Max Piccolomini ins Spiel tritt, Schillers utopische Gestalt der unverstellten Menschlichkeit, der ethischen Geradlinigkeit und reinen Liebe.
Es gehört zur Grösse der Wiesbadener Aufführung, dass sie für diesen Max (wie für alle übrigen Personen) die Wahrheit der Rolle trifft. Die Figuren stellen Max vor Entscheidungen und merken nicht, dass in Wirklichkeit sie von ihm vor Entscheidungen gestellt werden, so dass sie jetzt vor dem höheren Auge des Weltgerichts (und des Zuschauers) als Versager dastehen, ganz im Sinne von Schillers Aufsatz "Die Schaubühne als moralische Anstalt betrachtet".
Um "Wallenstein" dergestalt zu bringen, dass das Drama herauskommt und nicht "ich, der Regisseur", braucht es neben Bescheidenheit, Sensibilität und Erfahrung ein starkes Ensemble, aus dem heraus ein Max, eine Thekla, eine Terzky, ein Octavio, ein Friedland, ein Buttler, ein Illo, ein Isolani, ein Gordon, ein Wrangel, ein Deodati undsoweiter undsofort deckend besetzt werden können. Die Rollenträger müssen, zum Teil nur mit wenigen Pinselstrichen, auf der leeren Spielfläche eine Situation hervorrufen, die den Dialog spannend und glaubwürdig macht. Dabei spielen Pausen, Stockungen, Veränderungen des Rhythmus und der Intensität eine grosse Rolle.
Unter diesen Voraussetzungen ergibt sich im beinahe leeren Wiesbadener Staatstheater eine Aufführung "für die Nachwelt" im Sinn von Nicolás Gómez Dávila:
Für die Nachwelt schreiben heisst nicht, sich danach zu sehnen, dass man uns morgen liest.
Es heisst, nach einer bestimmten Qualität des Schreibens zu streben.
Selbst wenn uns niemand läse.
Die Feldherren sind ...
... vor Entscheidungen ...
... und versagen.