Die Schauspieler sind gut. © Karl und Monika Forster.

 

 

Quichotte. Rainer Kunze und Marie Johannsen nach Salman Rushdie.

Schauspiel.

Daniel Kunze. Hessisches Staatstheater Wiesbaden.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 11. Oktober 2021.

 

> Die Schauspielproduktion No. 88 der Intendanz Uwe Eric Laufenberg am hessischen Staatstheater Wiesbaden ist eine Romanadaptation, und damit, trendgemäss, auch gleich eine Uraufführung. Regisseur Daniel Kunze hat, zusammen mit Marie Johannsen, Salman Rushdies Roman "Quichotte" dramatisiert. Das Ergebnis ist eine Revue zerschredderter Elementar- und Tiefsinnsteilchen. Die Entropie des Universums spiegelt sich in der Entropie des Erzählstücks. Darum kann beim Verlassen des Saals niemand mehr genau angeben, was er gesehen hat. Und das Rushdie-Zitat auf der vorletzten Seite des Programmhefts wird ungewollt zum Menetekel für die Produktion No. 88: "Wer seine Geschichte nicht erzählen kann, existiert nicht." <

 

Gleich wie Miguel de Cervantes' Ritterroman mit dem Titel: "El ingenioso hidalgo Don Quixote de la Mancha" ist auch Rushdie/Kunze/Johannsens Kontrafaktur mit dem Namen "Quichotte" bipolar aufgebaut. Bei beiden Werken geht es um den Zusammenprall von Wahn und Wirklichkeit, beziehungsweise "Realität und Reality". Wer hat sich wem zu beugen? Einerseits kümmert es das Universum "einen Scheiss", wie die Person des Autors im Stück sagt, ob Menschen existieren und was sie von ihm halten, andererseits kommen sämtliche Vorgänge in Raum und Zeit dadurch zu ihrer Erfüllung, dass sich an einem konkreten Punkt im Hier und Jetzt zwei Seelen liebend zusammenfinden (wie Quichotte sagt).

 

Es geht also an diesem Abend im hessischen Staatstheater um die letzten Fragen. Deshalb, so ist zu vermuten, ist das kleine Haus auch nicht halb gefüllt. Denn "schwierige Sachen sind schwierig" (wie Walther Killy zu sagen pflegte), und wer kann, weicht ihnen aus; zumal in einer Rentner- und Bäderstadt, wo die Tage der meisten gezählt sind.

 

Die Jungen aber applaudieren am Schluss mit Enthusiasmus. Sie fanden auf der Bühne eine vertraute, das heisst aktuelle Themenwelt wieder: den pädophilen Grossvater, die Paralleluniversen, den Drogendeal, das Geflimmer der medienvermittelten Stoffe von Soap- und Reality-TV, die deprimierende Frage nach dem Sinn des Ganzen und demgegenüber – vermittelt durch Quichotte und Pansa – den trotzigen Lebensanspruch von Wunsch und Phantasie. Das Ganze wird (wie Hegel gesagt hätte) aufgehoben in der Person des Autors, der Quichottes Kopfgeburten als Kopfgeburten des Erzählers denunziert und problematisiert, so dass das Stück letztendlich den Nexus zwischen astrophysikalischer, künstlerischer und biografischer Wirklichkeit reflektiert (wie man im germani­stischen Seminar gern sagt).

 

Daniel Kunze inszeniert den verwirrenden themen-, begriffs- und zitatlastigen Mix als Revue. Damit unterlegt er der (sagen wir:) "Handlung" eine ohren- und augenfreundliche Sinnlichkeit, die das Zuschauerinteresse durch den Abend trägt, auch wenn der Kopf mangels Romankenntnis und akademischen Graden nicht immer versteht, was ihm geboten wird. Er denkt dann: "Es ist sicher gescheit; nur ich bin zu dumm dafür", und setzt, um die Überforderung zu verbergen, eine wohlwollend-amüsierte Miene auf.

 

Doch auch in diesem Zustand sieht er, dass die Schauspieler gut sind, mit Ausnahme der vier als "der Schwarm" bezeichneten Figuren, die aber durch das Sternchen *Statisterie entschuldigt sind. Gebraucht werden die Statistinnen aus Gründen der Abwechslung – und gewiss auch aus höheren Zusammenhängen, für deren Einsicht jedoch Romankenntnis und akademische Grade erforderlich sind.

 

Nachvollziehbar punkto Ausstrahlung, Wahrheit und Qualität sind Rainer Kühn als Quichotte und Christoph Kohlbacher als Pansa. Auf einer Stufe mit ihnen bewegt sich Christian Klischat als Autor, doch wird er am konkreten Abend von der Bühnentechnik bei der Abmischung von Sprache und Musik ungnädig behandelt.

 

Monika Kroll, 2001 als beste Schauspielerin Nordrhein-Westfalens ausgezeichnet, legt mit ihren beiden Auftritten als menschliches Trampolin (so heisst die Rolle) ein überwältigendes Plädoyer für die Stärkung des Fachs Sprechtechnik an den Kunsthochschulen ein. Hoffentlich merken das die Dekane beim Besuch von "Quichotte" in Wiesbaden! Dann hat sich die Produktion gelohnt.

 

Nachvollziehbar punkto Ausstrahlung und Qualität.

Dazu augenfreundliche Sinnlichkeit. 

Doch das kümmert das Universum "einen Scheiss". 

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