Evita. Andrew Lloyd Webber.
Musical.
Hans Christoph Bünger, Aron Stiehl, Friedrich Eggert, Otto Pichler. Bühnen Bern.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 13. September 2021.
> Für die weltberühmte Kemmeribodenbad-Meringue reisen die Liebhaber von weitem her an: Aus Oftringen, aus Winterthur, ja sogar aus Grenzach-Whylen und Efringen-Kirchen, und als Einheimischer braucht man sich für die kalorienreiche Kost nicht zu schämen. Nun aber hat das Bernerland eine zweite Attraktion hinzugewonnen, für welche die Freunde geschwungener Nidle viele, viele Kilometer mit dem Reisebus zurücklegen werden. Die Bühnen Bern nämlich servieren zur Spielzeiteröffnung ihrer Opernsparte ein überaus gelungenes, professionell zubereitetes Dessert: Andrew Lloyd Webbers preisgekrönte "Evita". Dass die zweite Hälfte etwas eintönig zum Auslöffeln wird, teilt das Musical mit der Meringue - und überhaupt mit all den leckeren Sachen, die nur aus Zucker, geschlagenem Eiweiss und Luft bestehen. <
Die Zubereitung von "Evita" gleicht dem Kochen nach Rezept: Man nehme, man mache, man tue ... Die Zutaten und Handgriffe sind vorgeschrieben. Die Gewürze auch. So wacht das Unternehmen – im konkreten Fall: The Really Useful Group Ltd. – dass "Evita" drin ist, wo "Evita" draufsteht; ein Markenrecht, das für die Produzenten Goethe, Schiller, Shakespeare, Hebbel, Grillparzer, Ibsen et al. längst erloschen ist.
Wenn heute auf dem Spielplan des Burgtheaters "Faust" steht, kann man davon ausgehen, dass Mephisto von einer Frau gespielt wird (im konkreten Fall: von Bibiana Beglau). Wenn das Haus am Ring "Othello" bringt, dann ist der venezianische General mit Sicherheit kein Mohr. Und wenn Peter Zadek an der Berliner Schaubühne "Hamlet" inszeniert, besetzt er die Rolle des Dänenprinzen mit Angela Winkler.
Man sieht: Seit die deutsche Sprechbühne vor einem halben Jahrhundert das Regietheater erfunden hat, versteht sie sich nicht mehr als Sinfonieorchester, sondern als Jazzband. Sie liest nicht mehr länger eine gedruckte Partitur, die ihr der Orchesterwart auf den Notenständer gelegt hat, vom Blatt ab, sondern realisiert allerlei Motive, die ihr spontan einfallen oder von irgendwoher zugetragen wurden, und entwickelt sie in freiem Zusammenspiel improvisatorisch weiter. Demzufolge bringen die Sprechbühnen seit 1970 nicht mehr "Richard III.", sondern "Etüden zu Richard III." oder "Assoziationen zu Richard III." oder "Dekonstruktionen von Richard III.".
Die Bühnen Bern bringen aber zur Spielzeiteröffnung ihrer Opernsparte wieder eine Produktion nach Vorschrift in die Bundesstadt: "Originalproduktion von Harold Prince [dem Uraufführungsregisseur vom 21. Juni 1978 im Prince Edward Theatre London], Produktion des Stadttheaters Klagenfurt vom 2. Mai 2019". In Bern kochen Aron Stiehl (Regie), Otto Pichler (Choreografie), Friedrich Eggert (Bühne und Kostüme) und Hans Christoph Bünger (musikalische Leitung) das Rezept nach, das der Franchise-Geber für "Evita" vorgeschrieben hat. Mit den Andrew-Lloyd-Webber-Musicals nämlich, schreibt Wikipedia, "setzte ein Trend ein, dass die Inszenierungen noch konsequenter als bei den klassischen Musicals vorgegeben wurden und Musik, instrumentelle Besetzung, Kulissen, Kostüme, szenische Realisierung bis hin zur Beleuchtung etc. als unveränderliche Vorlagen für alle Produktionen dienten".
Angesichts dieser Lage warf ein entmutigter Kritiker vor vierzig Jahren laut den Bleistift weg. Seinem letzten Artikel gab er den Titel "Nachrichten aus der Bäckerei" und erklärte, dass er fortan die Berichterstattung einstelle. Bei den Produkten der Musicalindustrie sei sie so wenig gerechtfertigt wie bei den Produkten der Backwarenindustrie. Es käme einem Gastrokritiker ja auch nicht in den Sinn, jede einzelne Semmel zu besprechen, die vom Fliessband komme. Zumal der Kritiker da nicht mehr Kritiker sei, sondern Kontrolleur: Er prüfe nur noch Bräunung und Konsistenz der Ware nach den Vorgaben des Produktionshandbuchs.
Dergestalt zum Betriebsinspektor degradiert, stellt der Berichterstatter der "Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt" den Bühnen Bern das Attest aus, dass sie die Ware mit dem Markentitel "Evita" unter Beachtung aller Vorschriften einwandfrei zubereitet haben. Die Qualität des Produkts entspricht dem Standard des Originalshops im Londoner West End. Besonders hervorheben möchte der Berichterstatter das hohe Engagement aller Beteiligten.
Für die Präzision der Darstellung und die mitreissende Spielfreude des Ensembles bedankte sich das Premierenpublikum mit lang anhaltendem Applaus. Wer sich nun diesen Herbst in Bern etwas zuliebe tun will, kann sich die Fahrt ins Kemmeribodenbad schenken und sich nach Feierabend gleich neben der Aussengastronomie des "Ringgenberg" eine vorzüglich zubereitete "Evita" als Dessert zu Gemüte führen.
Eine Attraktion ...
... für alle Freunde ...
... geschwungener Nidle.