Ein Hoederer im Alter Hamlets. © Florian Spring.

 

 

Die schmutzigen Hände. Jean-Paul Sartre.

Schauspiel.

Sophia Aurich. Konzert Theater Bern.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 26. Mai 2012.

 

> Was gut ist, zieht steil nach oben; was nicht gut ist, zieht fast ebenso steil nach unten. Damit zerfällt Sophia Aurichs Inszenierung in zwei Hälften: eine spannende, lebendige, sensible mit bemerkenswerten Schauspielerleistungen – und eine bemühte, öde, durchhängende, banale mit enttäuschenden darstellerischen Elementen. "Die schmutzigen Hände" sind also eine halbe Sache. Könnte man alles Schwache weglassen, würde die Aufführung ein Drittel weniger lang dauern, das Publikum dafür aber unablässig in Atem halten. Die Schnitte wären leicht zu machen. Man müsste sich bloss an die Devise halten: Mätzchen weg! <

 

Luka Dimic hat im Lauf seines Berner Engagements gelernt, eine Rolle durchzugestalten. Beeindruckend schon, in der vorletzten Spielzeit, sein Biff im "Tod eines Handlungsreisenden". Jetzt verabschiedet er sich mit einer fein getroffenen Hauptrolle: Hugo, der junge Parteisekretär, der nicht fürs Grobe gemacht ist. Bei Luka Dimic bekommt er rührend menschliche Züge. Sie wachsen hervor aus seelischer Unbeholfenheit und kindlicher Ehrlichkeit, und diese Züge, die bei einem Revolutionär nicht gefragt sind, lassen Hugo zart und verletzlich erscheinen. Dass ihm von den hartgekochten Parteigarden deshalb mitgespielt wird, geht ihm erst am Ende auf. Als Idealist reinsten Wassers ist er in eine Schlangenhöhle von Pragmatikern geraten, und nun muss er sich – stellvertretend für das Publikum – ein neues, wirklichkeitsgemässes Bild von Welt und Politik machen.

 

Ihm gegenüber stehen, in klug austariertem Kontrast, die grob gezimmerten Chargen von Louis, Slick und Karsky, alle drei von Stefano Wenk auf die Bühne gebracht. Der Mann hat eine Fähigkeit, die Füsse so zu setzen, dass der Zuschauer aus seiner Beinstellung gleich ablesen kann, mit wem er es zu tun hat. Und wenn der Schauspieler dazu noch leicht einen Finger der linken Hand abspreizt und den Arm in Bewegung setzt, ist das Porträt vollendet. Doch dann bringt Stefano Wenk noch seine Sprachgestaltung ins Spiel. In ihr verrät sich die Freude des Mimen an der genau getroffenen Nuance, und die wiederum weckt beim Publikum Freude am Zuschauen.

 

Einen ganz anderen Ton liefert Gabriel Schneider hinzu – sowohl zur Figurenkonstellation wie zur herkömmlichen Hoederer-Auffassung. Wird der Parteichef in der Regel mit einem reifen Charakterdarsteller besetzt, bekommt die Figur bei Schneider die Quirligkeit des grossen Diktators. Sie gibt der Rolle eine tragische Schattierung: Zwar weiss Hoederer, dass ihm nicht viel Zeit bleibt, aber der müde Revolutionsführer ist nicht im Alter Dantons, sondern Hamlets. Noch so jung, könnte man sagen, und schon so verbraucht! Und gelebt hat er noch nie! Wenn Gabriel Schneiders Hugo spricht, dann weniger aus der Illusionslosigkeit des Vielerfahrenen als aus dem Durchblick des Überbegabten, der schneller als die andern denkt und deshalb in abgehobener Höhe seine einsamen Kreise zieht. Hinter allem aber wird fühlbar der Wunsch nach Ruhe, der Wunsch nach Erlösung, der Wunsch nach dem Tod.

 

Die undankbare Rolle der Olga (eigentlich blosse Stichwort­geberin) wird von Milva Stark loyal versehen, während die Jessika von Gina Lorenzen vor allem Fragen aufwirft. Dass sie eine starke, eigenständige Frau geben will, und nicht nur das Anhängsel von Hugo – geschenkt. Aber warum muss sie so reden, als habe sie einen Retentionsdraht im Oberkiefer, der sie daran hindert, mit der Zunge ein S zu bilden? Dieser befremdliche Umstand verschiebt die Rollengestaltung ins Girliehafte, was durch die Frisur noch zusätzlich unterstrichen wird und der ganzen Konzeption ein schiefes Ansehen gibt.

 

Gleichwohl entsteht im Laufe von 1 h 50 min in der winzigen Box von Vidmar 2 ein Kammerspiel, das immer wieder zu starken Momenten führt – dann nämlich, wenn die Inszenierung bei Sartre ist. Wenn sie ihn aber verlässt, wird es bitter. Dann zeigt die "begabte Nachwuchsregisseurin" (Schauspieldirektor Cihan Inan), dass sie nicht nur Schauspieler an die Wahrheit ihrer Rolle zu führen versteht, sondern auch weiss, was zur Stunde gefordert ist: also Denunziation von Klimakatastrophe und Kapitalismus wie in allen Berner Schauspielproduktionen der letzten zehn Tage (egal, welches Stück); Aktualisierung der Sätze bis zur Anbiederung ("Ich habe auch bei Denner Rasierklingen geklaut, weil sie zu teuer waren"); Ins-Stocken-Bringen des linearen Handlungsflusses durch Momente der Wiederholung; Einsatz des schnurlosen Mikrofons wie drüben in der grossen Halle von Vidmar 1 bei "Onkel Wanja"; Einsatz eines Tasteninstruments wie drüben in Vidmar + bei "Da, da, da" und in Vidmar 1 bei "Network"; Einsatz von Video wie drüben in Vidmar 1 bei "Network"; und Ersatz der Detonation durch Aussprühen von Nebel, gleich wie drüben in Vidmar 1 bei "Onkel Wanja" der Gewehrschuss ersetzt wird durch das Versprühen roter Flüssigkeit.

 

Als der Romancier Roland Donzé (1921-2011) im Tagebuch Rückschau hielt auf seine schriftstellerische Entwicklung, begann er mit dem, was er dem Französischlehrer am Bieler Progymnasium verdankte:

 

Was André Tissot an den Heftrand schrieb:

 

– Eher Ausrutscher als Kühnheit. Neu schreiben.

 

– Fast gut. Aber mach's kürzer.

 

– Zu gewollt.

 

– Zu ernst.

 

– Unangebrachter Scherz.

 

– Übergang misslungen.

 

– Neu schreiben und kürzen.

 

André Tissot, mein Lehrer, nannte meine ersten Versuche gequälte Gedankenspiele (turlupinades). Bei dieser Gelegenheit lernte ich das Wort und die Sache kennen. Bald wusste ich (oder glaubte zu wissen) was ein Klischee ist, eine unnötige Wiederholung (redite) und alberner Unsinn (niaiserie).

 

Hätte das Berner Schauspiel diese Liste gehabt – "Die schmutzigen Hände" wären anders herausgekommen.

 

Einsatz von Pistole und Tasteninstrument.

Olga umarmt den verletzlichen Hugo. 

Die Frisur verrät das Girlie. 

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