Network. Lee Hall.
Schauspiel.
Johannes Lepper. Konzert Theater Bern.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 22. Mai 2021.
> Die Mischung macht's. Und die ist teuflisch. Zunächst einmal die Mischung der Erzählelemente: ein Fernsehstudio mit Redaktion und Technik; das Sprechen der 20-Uhr-Nachrichten mit Übertragung auf den Schirm; Kulissengetuschel und Seitensprung. Das alles live. Dann die Mischung der Contents: Weltpolitik, Aktualität, Werbung für Pasta und Mineralwasser (vom Theater selbst produziert, absolut professionell) und Entertainment (Gabriel Schneider am Flügel, ein Ereignis für sich). Und schliesslich die Mischung von Unterhaltung, Wahrheit, Meinung und Lüge, die das Theater, das Fernsehen, das Netz, die Wirtschaft und die Politik täglich produzieren. - Das Stück zur Zeit mit dem Titel "Network" (das Stichwort selbst verweist auf eine teuflische Mischung) lässt einen nachdenklich zurück ... und auch ratlos, wie es sich für ein echtes Stück Aufklärung gehört. <
Auf dem Weg zu "Network" erweist sich die Fahrt bereits als Bestandteil der Aufführung. Man verlässt das sogenannte urbane Zentrum und gelangt in immer hässlichere Quartiere. Sie verraten, dass die Stadt nach dem Krieg stark gewachsen ist und "Wohnraumbeschaffung" oberste Priorität hatte. Schliesslich kommt man durch charakterlose Neubauten der globalisierten Container-Architektur auf XXXL-breiten Quartierstrassen zur Produktionsstätte: in Zürich das SRF-Studio Leutschenbach, in Wien das ORF-Studio Küniglberg und in Köniz die KTB-Aussenstelle Vidmar.
Hier sind die Gänge leer. Und wie an Sonn- und Feiertagen ist auch das Studiorestaurant Le Beizli geschlossen. An ein paar Beschäftigten des Hauses vorbei erreicht man den grossen Sendesaal, hier Vidmar 1 genannt, und sieht, dass die Vorbereitungen zu den 20-Uhr-Nachrichten unter Zuschauerbeteiligung, wie bei Infotainment üblich, schon im Gange sind. In den Regiekabinen leuchten Mikrofone auf, und auf dem Nachrichtenpult steht ein Wasserglas. Auf dem Screen läuft noch Werbung, aber daneben wird auch schon der Count-down eingeblendet: Noch 30 Sekunden bis zu den News. Der Sprecher tritt auf, seine Kärtchen in der Hand, räuspert sich, macht sich bereit, hält noch den Kopf hin für letzte, feine Kosmetik mit dem Pinsel, und dann kommen wir, "on air", zur Weltlage: Waffenruhe zwischen Israel und der Hamas. Rückgang der Corona-Zahlen. Treffen der G 7. Die Wirtschaftsdaten.
Auf diese Weise beginnt die grandiose Inszenierung von Johannes Lepper (er zeichnet auch für Videokonzept und Musik) mit einem sensationellen realzeitlich-analogen Travelling von der konkreten bernischen Zuschauerwirklichkeit hinüber in die abgehobene globale Medienwirklichkeit. Die Vermischung aller Dinge ist das Thema der Aufführung, die ihrerseits vermischt ist mit dem Stück "Network" von Lee Hall, das seinerseits vermischt ist mit dem Film von Paddy Chayewsky. Der Hintersinn des Hintersinnss evoziert, wohl ohne dass es den Beteiligten bewusst ist, die im Barock vielgeliebte Struktur des Spiegelkabinetts. Das zeigt, dass die Menschen in Endzeiten, wo Krieg, Vertreibung, Dürre, Pest und Not ihr ganzes Fühlen und Denken in Anspruch nahmen, stets von der Sein-Schein-Problematik und der Frage nach der Wahrheit bewegt wurden, heute wie gestern und ehegestern.
Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau.
1617 Breslau - 1679 ebd.
Die Welt.
WAs ist die Welt / und ihr berühmtes gläntzen?
Was ist die Welt und ihre gantze Pracht?
Ein schnöder Schein in kurtzgefasten Gräntzen /
Ein schneller Blitz bey schwartzgewölckter Nacht.
Ein bundtes Feld / da Kummerdisteln grünen;
Ein schön Spital / so voller Kranckheit steckt.
Ein Sclavenhauß / da alle Menschen dienen /
Ein faules Grab / so Alabaster deckt.
Das ist der Grund / darauff wir Menschen bauen /
Und was das Fleisch für einen Abgott hält.
Komm Seele / komm / und lerne weiter schauen /
Als sich erstreckt der Zirckel dieser Welt.
Streich ab von dir derselben kurtzes Prangen /
Halt ihre Lust vor eine schwere Last.
So wirstu leicht in diesen Port gelangen /
Da Ewigkeit und Schönheit dich umbfast.
In der Welt des Scheins, für die das Theater als Schau-Stätte selbst wieder die Metapher abgibt, wird nun in "Network" der Schein gespiegelt, den die elektronischen Medien in Werbeclips, News und Serien vors Zuschauerauge bringen. Der Schauspieler Nico Delpy "spielt" (ich setze das Wort in Anführungszeichen, um den Schein-Charakter des Arrangements zu unterstreichen) die Hauptrolle: den Fernsehnachrichtensprecher Howard Beale. In der Mischung von Fiktion, Inszenierung und Darstellung wird es immer schwieriger zu unterscheiden, wann die Figur Beale spricht, wann der Schauspieler Delpy und wann der Mensch Nico. Eine eindrückliche - und stückadäquate - Mischung der Ichs.
Am Ende aber wissen wir:
Lasst euch euer Ich nicht stehlen, das euch Gott gegeben hat, nichts vordenken und nichts vormeinen, aber untersucht euch auch erst selbst recht und widersprecht nicht aus Neuerungssucht. Hierzu ist Gelegenheit überall, ohne Griechisch und ohne Latein und ohne Englisch.
Georg Friedrich Lichtenberg
Indem "Network" auf diese Erkenntnis hinausläuft, realisiert das Berner Theater den Auftrag des jungen Friedrich Schiller in beeindruckendem Mass, sich selbst als "moralische Anstalt" zu verstehen:
Die Gerichtsbarkeit der Bühne fängt an, wo das Gebiet der weltlichen Gesetze sich endigt. Wenn die Gerechtigkeit für Gold verblendet und im Solde der Laster schwelgt, wenn die Frevel der Mächtigen ihrer Ohnmacht spotten und Menschenfurcht den Arm der Obrigkeit bindet, übernimmt die Schaubühne Schwert und Waage und reisst die Laster vor einen schrecklichen Richterstuhl. Und so gewiss sichtbare Darstellung mächtiger wirkt als toter Buchstab und kalte Erzählung, so gewiss wirkt die Schaubühne tiefer und dauernder als Moral und Gesetze.
Am Ende der Reise durch charakterlose Neubauten, XXXL-breite Quartierstrassen zur Aufführung des Berner Schauspiels versteht man den Ernst dieser Sätze, als wär's zum ersten Mal.
Mischung von News und Entertainment.
In der Hauptrolle: Nico Delpy.