Romeo und Julia. William Shakespeare.
Tragödie.
Veit Schubert, Stephan Fernau, Klaus Figge, Oliver Urbanski, Samuel Schmid. Theater Orchester Biel Solothurn.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 20. Mai 2021.
> Das Theaterwunder am Jurasüdfuss. Seine Wirkung erfährt das Publikum bei "Romeo und Julia" am eigenen Leib: Beklommenheit schnürt das Herz zusammen. Der Atem stockt. Eine unerklärliche Grundspannung hält den Geist in Trab, und der wiederum ruft einen vielfältigen, ununterbrochenen Wechsel von Gefühlen hervor: Ernst, Andacht, Verwunderung, Erschütterung, Enthusiasmus – ohne dass man recht angeben könnte, warum das Gebräu wirkt. Ob es noch mit rechten Dingen zuging? Oder hast etwa du, William, von drüben her der Truppe geholfen, das Theaterwunder am Jurasüdfuss zustandezubringen? In dem Fall: Danke! <
Vier Schichten bilden zusammen die Aufführung. Erste Schicht: die Sprache. Sie erfüllt den Wunsch, den die Doyenne der Theaterkritik vor zwei, drei Jahren nach der x-ten Uraufführung einer Textfläche seufzend am Saalausgang verriet: "Michel, ich möchte so gern wieder einmal eine Geschichte erleben!" Und nun entrollt sich auf den Brettern von Biel und Solothurn eine Geschichte, nein, eine Tragödie von Weltgrösse, die Shakespeare in die Schlussverse fasste: "Denn niemals gab es ein so herbes Los / Wie Juliens und ihres Romeos."
Indem Shakespeares Sprache Geschichte herstellt, haben ihre Sätze Funktion; sie sind nicht bloss postdadaistisches Gebrabbel, um auszudrücken, dass alles Reden sinnlos sei. Die Äusserungen geben in jedem Moment zu verstehen, wo der Mensch, der spricht, steht; zu welcher Schicht er gehört; was er beabsichtigt und fühlt. Aus der Abfolge der Sätze erwächst dann jene Verkettung von Willens- und Gefühlsimpulsen, Umständen, Gedanken und Ereignissen, die wir zusammenfassend "Handlung" nennen.
Das ist schon imposant genug. Dazu kommt aber – wie bei Schiller, Kleist, Grillparzer, Hebbel und Hofmannsthal – der Wille, nicht nur eine exakte, der Handlung in jedem Moment dienliche Sprache zu schreiben, sondern auch eine schöne. Mit diesem Anspruch lassen die Klassiker das Durchschnittsgewusel hinter – man könnte auch sagen: unter sich. Der Begriff der Klassik nämlich, erklärte Walther Killy, bezeichne, richtig verstanden, nicht eine Epoche, sondern "den ersten Rang geistiger und poetischer Leistung, welche zum Vorbild zu dienen, über die Zeiten hinwegzuwirken und zu guter Zeit wiederzukehren vermag".
Die schöne Sprache, die Shakespeare geschrieben hat und die jetzt am Jurasüdfuss in der schönen Übersetzung von Thomas Brasch zu uns herüberkommt, zeichnet sich aus durch die Vielfalt ihrer Ebenen und Wortformen. Einzelne Momente gestalten sich zu Arietten aus. Dann wieder folgen Interjektionen, die bloss aus abgerissenen Wörtern oder Lauten bestehen. Einzelne Stellen sind – wie im Original – gereimt; manchmal just jene Passagen, in denen (Gipfel der Dialektik) Sexuelles oder Rotziges zum Ausdruck kommt.
Die zweite Schicht besteht in der Inszenierung von Veit Schubert aus durchkomponiertem Körperspiel. Mit ihm erweitert der Regisseur die beengten Verhältnisse der Häuser am Jurasüdfuss, indem er die Zuschauer unablässig antreibt zu verfolgen, wie die Gebärden und Haltungen des Ensembles den literarischen Text durch subsprachlichen Ausdruck vervollständigen. Bei dieser Dynamik kommen die Räume ins Fliessen und verwandeln sich stufenlos vom Gemach zum öffentlichen Platz und vom Festsaal zur Grabkammer.
So drücken sich die Personen in Biel-Solothurn nicht nur durch ihre Sprache aus, sondern auch durch ihren Gang. Die Gesetzten bewegen sich hoheitsvoll (Atina Tabé als Mutter) oder selbstbewusst (Matthias Schoch als Vater), bescheiden (Günter Baumann als Pater Lorenzo), beschränkt (Barbara Grimm als Amme) oder schleimig (Alvise Lindenberger als Graf Paris). Die Jungen aber (Liliom Lewald, Jonas Hannes Golz, Sandro Howald) springen vom Boden auf die Simse und Pilaster wie die Spatzen auf dem Domplatz von Vernona. Dabei greift das lebendige, übermütige Volk rasch zum Degen. Die Fechtszenen, die Klaus Figge choreographiert hat, gehören zum Atemberaubendsten, das eine Bühne je zu bieten hatte.
Gleichzeitig macht das gefährliche Spiel mit den Waffen auch Sinn: Es evoziert den Kontext von Aggressivität und struktureller Gewalt, aus dem letzten Endes die Tragödie von Romeo und Julia herauswächst. "Selig sind die Friedfertigen", sagte der Evangelist. Die Männer von Verona sind das nicht. Sinnvollerweise endet die Aufführung auch nicht mit der Versöhnungsszene. Sie wirkte an einem Abend, an dem sich Israeli und Palästinenser mit hunderten von schweren Geschossen bekriegen, unglaubwürdig oder, leider, als Utopie zu schwach, um eine Umkehr zu bewirken. Leider fällt damit aber auch Pater Lorenzos Satz weg: "Seht, welch ein Fluch auf eurem Hasse ruht". Aber das merken wir beim Einschalten der Nachrichten ohnehin.
Die dritte Schicht der Aufführung bildet das Bühnenbild von Stephan Fernau. Mit seinem zerrissenen Bühnenboden macht es kenntlich, dass sich das Spiel von Romeo und Julia über einem Abgrund entwickelt. Die Bühnenwand, die sich als Kreuz lesen lässt, zeigt mal Schwärze als Farbe der Nacht und des Todes, mal Bläue als Farbe des Himmels und der Freiheit, mal Röte als Farbe der Liebe und des Blutes. Seitlich wird die Spielfläche von drei wuchtigen Korpussen unterschiedlicher Höhe begrenzt. Die Raumkörper und die Schauspielerkörper stehen miteinander unablässig in Interaktion und legen das Johannes-Wort "Und das Wort ward Fleisch" artistisch und szenisch auf neuartige Weise aus.
Im Moment aber, wo Romeo und Julia zum ersten Mal zusammenkommen und voreinander auf dem Proszenium kauern, spricht der Riss im Bühnenboden schon mit und betont das Trennende. Das Paar indes, das sich seine Zuneigung gesteht, verkörpert mehr als romantische Holdseligkeit und Schwärmerei. Romeo (Dimitri Stapfer) und Julia (Antonia Scharl) zeigen moderne Menschen auf dem Weg zur Eigenverantwortung. Und darum ist ihr Ende tragisch: Mit ihnen geht die Zukunft unter.
Die vierte Schicht bilden die Musik von Oliver Urbanski und die Lichtgestaltung von Samuel Schmid. Sie schaffen Räume für Emotion und Spiel und helfen damit dem Text, der Inszenierung und dem Bühnenbild, eine Intensität zu gewinnen, die das Herz zusammenschnürt und den Atem zum Stocken bringt.
Zusammen erzeugen die vier Schichten einen sogenannten Moiré-Effekt. Er stellt sich ein, wenn perforierte Oberflächen hintereinander stehen. Dann wird die Installation durchlässig für etwas, das zwischen dem Festen liegt – vorausgesetzt, dass sich der Betrachter bewegt. Er erfährt dann den Moiré-Effekt als Beseelung der Materie, oder, kurz gesagt, als Wunder.
Die Bühnenwand lässt sich als Kreuz lesen.
Das junge Volk greift rasch zum Degen.
Interaktion von Darsteller- und Raumkörpern.