"Da da da ...". Anna Papst.
Erinnerungskonzert.
Anna Papst. Konzert Theater Bern.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 19. Mai 2021.
> Nach zwanzig Minuten bildet sich das Fazit: Nett – aber was soll's? Und dann, ja dann ereignet sich's, dass die Aufführung noch eine Stunde zehn so weitergeht. Nicht, weil noch Besonderes, Neues oder Aufregendes zur Sprache drängt, sondern weil das Dokumentarstück allen Mitgliedern eines Berner Laienchors Gelegenheit geben will, ihre Musikerinnerungen im breiten Dialekt des damaligen Schweizerischen Mittelwellensenders Büromünster auszukramen. Doch wer nicht zwischen 1950 und 1960 zur Welt kam und zur Chorfamilie gehört, fragt sich nach zwanzig Minuten immer schläfriger: Nett – aber was soll's? <
Die Seuche hat dem Projekt zugesetzt. Gedacht war, den 25-köpfigen Berner Laienchor Laltracosa auf die Bühne zu bringen und seine Mitglieder vortragen zu lassen, was für Erinnerungen sie mit bestimmten Musikstücken verbinden. Statt Schauspielern hätte das Publikum dann echte Menschen vor sich gehabt – ein Format, das sich seit Milo Raus ersten Versuchen in den Nullerjahren exponentiell verbreitet hat. Es gibt den Veranstaltungen, meinen die Theaterleute, "eine besondere Authentizität". Und "Authentizität" ist immer gut.
Zudem bedient das Format einen Trend, den der hellsichtige Lyriker Philippe Jaccottet bereits vor vierzig Jahren auf uns zulaufen sah: Die moderne Medienwelt, sagte er 1978 (!), lasse nur noch Exhibitionisten und Voyeure zu. So vernimmt nun das Publikum in den Könizer Vidmarhallen ein Sammelsurium von Menschlich-Allzumenschlichem, das sich den Chormitgliedern zusammen mit einem bestimmten Musikstück im Gedächtnis eingeprägt hat: Scheidung der Eltern, Entdeckung des adriatischen Meers und der Sexualität inklusive Coming-out, Verhältnis zu den Eltern und zur Armee, traumatische Geburt, neue Liebe – viele, viele Themen und Minidramen, die sich im Satz meiner Putzfrau Lydia Zwahlen aus Bümpliz zusammenfassen lassen: "Unter jedem Dach ein Ach."
Nun aber kann der Chor, seuchenbedingt, nicht auftreten. Anna Papst hat deshalb seine Aussagen verschriftlicht und durch eine Reihe älterer Schauspieler sprechen lassen. Das Klangerlebnis erinnert an die Hörspielabende des schweizerischen Landessenders Büromünster in den 1950er und 60er Jahren – jener Zeit also, in der die Chormitglieder zur Welt kamen und jung waren. Dieser Epoche entstammen auch die Schlager und Lieder, die jetzt in Vidmar + angespielt und zitiert werden.
Die "Authentizität" rutscht damit ins theatralisch Gediegene. Das zeigt sich besonders in der einzigen Nummer, die Stefano Wenk auf der Bühne live vortragen darf: Es geht ums Lebensgefühl der Jugend im Dorf von 1960 mitsamt ihrer rührend unbeholfenen Ausbruchsversuche. Der Darsteller schildert indes die Sequenz eine Nummer zu gross und mit zu absichtlicher Betonung der volkstümlichen Ausdrucksweise. So bringt er einen Hauch von Karikatur (und damit Kritik) in einen Abend, der sonst von Andacht vor den "Menschen wie du und ich" geprägt ist.
Zwei junge, bärtige Musiker (Moritz Achermann und Roland Bucher), von Anna Papst als Regisseurin auf eine Mischung von Troll und Nerd hin stilisiert, produzieren mit verschiedenen zeittypischen Instrumenten die Klänge live. Chantal Le Moign beteiligt sich daran wohltuend zurückhaltend. – Währenddessen kann das Publikum zu den zitierten Musikstücken innerlich mitsummen, sofern es dem Alterssegment der Chormitglieder zugehört – und das tut es auch in der Vorstellung vom 18. Mai.
Damit sind wir in der Echokammer eines Formats, um das zur Zeit weder Wien noch München noch Berlin noch Paris noch Bern und, wie sich in Kürze zeigen wird, auch nicht Biel und Solothurn herumkommen: Nostalgiefaktor mit Lokalbezug. Überall aber stellt sich die Frage der Beliebigkeit bei der Auswahl, der Abfolge und Zahl der gespielten Kompositionen. "Der circulus vitiosus des Konkreten kennt keinen Ausweg. Da liegt das Verhängnis - auch für das Stück. Es hat keine Weite. Es hebt nie ab." (Paris, Théâtre du Rond-Point) "Es geht nicht um Erkenntnis durch Zerlegung und Analyse, sondern ums Mitschwimmen in Assoziationen, Erinnerungen und Gefühlen." (München, Kammerspiele) "Der Auswärtige aber erfährt in erster Linie seine Nicht-Zugehörigkeit." (Wien, Volkstheater) "Der Abend ist keinen Verriss wert." (Berlin, Schaubühne)
In Bern erweitert Anna Papst das Spektrum durch einen kurzen neurologischen Input: Sie zitiert die leitende Ärztin der Memory Klinik Zürich. Die Neurologin erklärt, was im alternden Hirn passiert, wenn bei Demenz die Verbindungen zerbröseln. Damit wird, fachmännisch gesprochen, der Betroffenheitsfaktor noch einmal gepusht: Es geht um dich und deine Angehörigen. "Warte nur, balde / Ruhest du auch." (Goethe, Wanderers Nachtlied)
Die jüngere Pariser Kritik (ich meine die dreissigjährigen Kollegen) reagiert auf solche Momente allergisch und spricht von "emotionaler Erpressung". Doch sie steht mit diesem Urteil allein (wie auch "Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt"), denn das Publikum, das sich immer gern im Spiegel sieht, bedankt sich für Abende dieses Zuschnitts regelmässig mit warmem, anhaltendem Applaus – in München, Wien, Berlin, Paris, Biel-Solothurn und jetzt eben ... auch in Bern. Seufz.
Die Musik ...
... live vorgetragen ...
... mit Charme und Nostalgie.