Herzog Blaubarts Burg. Béla Bartók.
Oper in einem Akt.
Kaspar Zehnder, Dieter Kaegi, Francis O'Connor, Mario Bösemann. Theater Orchester Biel Solothurn.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 15. Februar 2020.
In gewissem Sinn entspricht die Bieler Premiere von "Herzog Blaubarts Burg" einer Uraufführung. Zum ersten Mal wird Eberhard Klokes Fassung für 28 Musiker gespielt. Béla Bartóks Originalpartitur verlangt dagegen eine dreimal stärkere Besetzung. In der reduzierten Fassung ist das Werk jetzt auch für kleinere Häuser spielbar, und Theater Orchester Biel Solothurn macht den Anfang.
Die Inszenierung besorgt der Intendant. Er arbeitete einst als Assistent von Jean-Pierre Ponnelle in Zürich, Paris, Bayreuth, München und New York, und die Weite seiner Erfahrung bringt er nun als Intendant in die kleinen Häuser am Jurasüdfuss. "Dieter Kaegi", schrieb der "Bund" vor der Premiere (bzw. Uraufführung), "ist kein Verfechter musealer Inszenierungen". Anders gesagt: Wenn er Regie führt, bietet er Welttheater für die Provinz.
Diesmal beginnt er kühn damit, dass er das Stück eines Irländers zitiert. Aber Kaegi war ja, bevor die Insel in der Finanzkrise ihre Nationaloper schloss, Direktor der Opera Ireland in Dublin. So beginnt nun die Aufführung "eines Abends, spät, in der Zukunft". Am rechten Rand "der Vorbühne ein kleiner Tisch. Am Tisch sitzt, mit dem Gesicht zum Zuschauerraum", der Sprecher des Prologs. "Auf dem Tisch ein Tonbandgerät mit Mikrofon und zahlreichen Pappschachteln, die Bandaufnahmen enthalten." Die Spielanlage verbindet mithin Béla Bartóks Kurzoper mit Samuel Becketts Kurzstück "Krapp's Last Tape".
Auf dem Band sind Wörter und Klänge aus der Vergangenheit festgehalten. Der Mann, der die Dokumente aus dem Kopfhörer aufnimmt, macht sich Notizen. Er spricht auch die Sätze nach, die der Librettist Béla Balázs an den Anfang der Oper gesetzt hat: "Ihr schaut, ich schaue euch an. Aufgeschlagen sind die Wimpernvorhänge unserer Augen: Wo ist die Bühne: aussen oder innen?"
Das Tonband wird zum Ariadnefaden, der, "eines Abends, spät, in der Zukunft", ins Einst der Vergangenheit führt: ins Einst von Béla Bartóks Leben und Werk – aber auch ins Einst der Märchen, Legenden und Sagen: "Es war einmal ein Mann, der hatte schöne Häuser in der Stadt und auf dem Land, Geschirr aus Gold und Silber, gedrechselte Möbel und ganz vergoldete Kutschen; aber unglücklicherweise hatte dieser Mann einen blauen Bart: Das machte ihn so hässlich und so schrecklich, dass es weder Frauen noch Mädchen gab, die nicht vor ihm wegflohen." Mit diesen Worten beginnt Charles Perraults "La Barbe Bleue". Die Geschichte "gehört zu seinen am besten erzählten Märchen", vermerkten dazu die Brüder Grimm in ihrem Kommentar.
Dieter Kaegi inszeniert jetzt das hervorragend erzählte Märchen auf neue, eigenständige Weise. Er verfährt dabei nicht illustrativ, sondern evokatorisch-assoziativ. Damit folgt er der Erzählweise der Oper, die einen deiktischen, das heisst hinweisenden, heraufbeschwörenden Charakter hat: "Komm und schaue: Dies ist Herzog Blaubarts Burg ... Was siehst du? Was siehst du? Sieh doch, sieh doch wie sich's lichtet!"
Bei dieser Redeweise braucht es die Darstellung der sieben Räume nicht mehr. Und so öffnen sie sich nicht mehr länger auf der Bühne, sondern in der Musik, in der Imagination der Mitspieler – und der Imagination der Zuschauer. Bei Blaubarts suggestivem Drängen aber verwandelt sich die Führung durchs Schloss in einen Akt der Verführung durch Worte.
Künstlerisch ist diese Änderung bedeutsam. Sie zeigt die Macht der Narration, und zwar in ihrer höchsten, aber auch zerstörerischsten Potenz: Das Opfer erliegt dem, was ihm vorerzählt wird, indem es sich öffnet für ein geistiges, faszinierend abgründiges System. Das passiert der armen Judith in "Herzog Blaubarts Burg", das passiert den Trump-Wählern in den USA, und es passiert den Zuschauern im Theater, sofern die Aufführung die Kraft von Biel-Solothurn erreicht.
Damit wird klar, dass Bartóks Oper in Dieter Kaegis Inszenierung mehrere Dimensionen hat, genaugenommen drei. Da ist einmal der geistige Raum, den der Komponist und der Librettist miteinander hervorgebracht haben. Dazu kommt der imaginäre Raum, der sich in Judith und Blaubart auftut. Drittens evoziert das Bühnenbild von Francis O'Connor die Enge von Fritzls Bunker, Natascha Kampuschs Gefängnis und den Plastikvorhang der Duschkabine von Alfred Hitchcocks "Psycho". Damit umfasst die Aufführung mit einer souveränen Gebärde gleichzeitig die Legende, das Theater, den Film und die Wirklichkeit. Sie ist also mehrfach reflexiv, ja sogar sogar selbstreflexiv. Welttheater in der Provinz.
"Dies ist übrigens meine erste Inszenierung in Biel zusammen mit unserem Chefdirigenten Kaspar Zehnder. Ein Herzensprojekt." Das sagte Dieter Kaegi im "Bund"-Interview vor der Premiere. Man merkt der Tonspur die Liebe und Sorgfalt der beiden künstlerischen Leiter an. Das Sinfonie Orchester Biel Solothurn setzt Eberhard Klokes Partitur vortrefflich um. Den Wechsel der Töne, die Spannung und Schönheit erhält die Interpretation aber dadurch, dass sie sich an Dürrenmatts Rezept hält: "Man spiele den Vordergrund richtig, den ich gebe, der Hintergrund wird sich von selber einstellen."
Zum richtigen Spielen gehört die Natürlichkeit, mit der sich die Personen auf der Bühne bewegen: Mischa Schelomianski als Blaubart, Katerina Hebelkova als Judith und Christian Manuel Oliveira als Sprecher des Prologs. Beinahe lässt die filmrealistische Genauigkeit – auch dank dem subtilen Licht von Mario Boesemann – vergessen, dass die Darsteller singen, so leicht und mühelos kommen ihnen die Gesangslinien über die Lippen. Mit fein abgestufter Interaktion realisieren sie ein Zusammenspiel von kammermusikalischer Dichte. Der Sprecher des Prologs, der am Anfang nur Bänder abhörte, wird da mit der Zeit zum Beteiligten; zuerst innerlich, dann faktisch. Er wandert über die Bühne und streckt den Arm nach Judith aus, ohne den Lauf des Geschehens verändern zu können.
Und hier ist vielleicht das subtilste Zeichen in Dieter Kaegis Meisterinszenierung: Gleichzeitig Sixtinische Kapelle (Gott Vater und Adam), "Dantons Tod" ("Wir strecken die Hände nacheinander aus, aber es ist vergebliche Mühe, wir sind sehr einsam.") und Tagesschau (der Blick der Boat People in die Kamera, ohne dass sich der Kontakt schliesst). Damit erfasst das unscheinbare darstellerische Symbol der Vergeblichkeit das ganze Leid von Béla Bartóks Meisterwerk. Für eine so durchdachte, mehrschichtige Aufführung lohnt sich die Fahrt in die Provinz, sogar aus Zürich und Basel (und erst recht aus Wien).
Ambivalenz der Gebärden.
Und ausweglose Finsternis.